In dem Jahr, in dem ich ins Dorf zurückkehrte, hatte es einen sogenannten Jahrhundertsommer gegeben. Monatelang waren die Fußgängerzonen mit jungen Leuten - die Jungen sind im Sommer immer in der Überzahl - verstopft gewesen und während der ganzen Zeit hatte sich kaum jemand auf die Straße gewagt, der sich nicht über die Hitze gefreut hätte. Den Temperaturen entsprechend hatte jede Menge nacktes Fleisch bloß gelegen und ich war dem Zwang erlegen, mich an denjenigen weiblichen Körperteilen und -formen, die bei kühlerem Klima verborgen bleiben, satt zu sehen.
Ich hatte keinen Spaß bei dieser Ausschau nach Brustwarzen und Schenkeln, es handelte sich dabei sozusagen nur noch um einen hormonell bedingten Reflex, der nicht die Geilheit, sondern eine Art von stumpfsinniger Qual beförderte, in die jede Ahnung sexueller Vergnügungen mündete, und mit jedem Stück braungebrannter Frauenhaut, auf das mein Blick fiel, plagten mich wieder Erinnerungen, die mir die Lust auf das andere Geschlecht schon längst verdorben hatten. Böse und gräßliche Erinnerungen an einen Sommer im Dorf, ebenso heiß wie der besagte.
Endlich hatte sich dann, sehr spät im Jahr, über Nacht der Himmel bewölkt und gegen Mittag des darauffolgenden Tages waren die ersten Regentropfen gefallen, als Vorboten eines wochenlangen Dauerregens, der nun die Menschen zurück in die Häuser und in ihre warmen Pullover zwang und dafür sorgte, daß die Straßen jetzt trübe und verlassen dalagen und die Geschäfte der Händler schlechter gingen. Ich hatte meine Tage wieder so verbracht, wie in der ganzen Zeit vorher, seit ich an der Universität immatrikuliert war: In meinem Zimmer herumliegend oder auf die Straße hinuntersehend, ab und zu ein Gang zum Supermarkt oder für ein paar Stunden die Flucht in den Sport. Dazu die üblichen trostlosen Gedanken, die sich selbst beflügelten.
Ich kann selbst nicht so recht erklären, warum ich das alles erwähne. Es hatte ja auch gar keinen vernünftigen Grund für die Rückkehr ins Dorf gegeben, sondern lediglich einen Impuls, dem ich dann folgte und den ich mir im nachhinein begründete. Ich bin sozusagen aus den vorausgegangenen Wochen und Monaten heraus aufgebrochen, es waren die schwülen Sommer- und die verregneten Herbsttage, die mich dorthin getrieben haben ...
Jedenfalls regnete es noch Anfang Dezember, als ich mich entschloß: Ich fuhr zum Dorf.
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Das Dorf: Dort wurde ich geboren, dort machte ich die ersten Schritte in der Welt. Dort war ich glücklich im Sandkasten des evangelischen Kindergartens und unglücklich, als ich zu ängstlich war, es den Anderen gleichzutun und auf einen der großen Bäume hinter dem Sportplatz zu klettern. Mit der Familie habe ich dort vor dem Essen gebetet, denn dort war mein Vater ein strenger und religiöser Mann, so daß ich es nicht gewagt hätte, die Kinderkirchstunde zu versäumen oder zuhause beispielsweise "Herrgottsack" zu fluchen. Von dort bin ich schließlich in die Stadt ins Gymnasium gefahren, wo die Klassenkameraden - in der Mehrzahl die Söhne und Töchter wohlhabender Stadteltern - eine Freiheit gewohnt waren, von der ich nur träumen konnte, und mich, den unbeholfenen Einfaltspinsel vom Lande, verachteten.
Dort bin ich stundenlang spazierengegangen, habe im Sommer am See unten den Mädchen Blicke nachgesandt, von denen der Vater nichts wissen durfte, habe abends im Bett heimlich Comic-Strips gelesen und nachts zum erstenmal ins Bettzeug onaniert.
Dort habe ich mich in Sabine Mühlhaupt verliebt.
Und dort habe ich Sabine, in einer schwülen Sommernacht, während noch der Lärm von der Festwiese herüberschallte, umgebracht und begraben.
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© Oliver Schilling 1997